Der Tibet Terrier
Der erste Eindruck täuscht
Kennen Sie den Tibet Terrier? Wenn nicht: Vergessen Sie ganz schnell
das meiste, was ihnen gerade beim Anblick der Fotos spontan in den Sinn
gekommen ist! Nein, der Tibet Terrier ist kein Kuschelhund und erst
recht kein Dekor für die heimische Couch - auch wenn das wegen
seiner prachtvollen Haare so erscheinen mag. Nein, unser Tibeter jagt
auch nicht als Terrier Hasen oder Füchse oder anderes Wild in Wald
und Feld. Die Bezeichnung Terrier ist falsch, und schuld daran sind
mal wieder die Engländer vom Britischen Kennel Club: Weil sie auch
bei exotischen Hunden immer nur die Abbilder der eigenen Rassen suchen!
Und selbst die Frage, ob wir im Tibet Terrier überhaupt einen Rassehund
nach europäischem Verständnis sehen können, lassen wir
vorläufig unbeantwortet.
Warum das so ist, läßt sich erklären. Nehmen wir zum
Vergleich als Inbegriff moderner Hunderassen den Deutschen Schäferhund
und den Boxer. Beide Rassen entstanden gleichsam am Reißbrett,
sind echte "Designer-Rassen", obwohl zu ihrer Zeit dieser
angelsächsische Begriff noch kein Allgemeingut war. Bedeutende
Züchterpersönlichkeiten, beim Dt. Schäferhund der Freiherr
Max von Stephanitz, beim Boxer eine Dreiergruppe, entwickelten präzise
Vorstellungen von ihrem gewünschten Hund: Welche Leistungen er
bringen, welche äußere Erscheinung, welche Wesens- und Charaktermerkmale
er haben sollte und aus welchen anderen Rassen und Schlägen ihr
Hund herausgezüchtet werden mußte.
Streng kontrolliert bis heute von einflußreichen Zuchtvereinen
entstand jeweils ein Rassehund, der ständig nach klar definierten
Körper- und Wesensmerkmalen selektiert wird. Hier haben die üblichen
Rassebeschreibungen, die oft ja nur Idealtypen zeichnen, eine breite
reale Basis.
Apso statt Terrier
Ganz anders beim Tibet Terrier. Reisen Sie heute mal in die Autonome
Region Tibet, - den kläglichen Rest von Tibet, den das mörderische
chinesische Besatzungsregime noch übrig gelassen hat. Auf den Straßen
von Lhassa könnten Sie durchaus Hunden begegnen, die unserem Tibet
Terrier sehr ähnlich sehen und sogar in jeder europäischen
Ausstellung bestünden - falls man sie vorher entfilzt. Doch fragen
Sie Einheimische nach dem Tibet Terrier, werden Sie nur auf Unverständnis
stoßen. Eine solche Hunderasse gibt es in Tibet nicht, und überhaupt
keine Hundezucht nach europäischem Muster.
Apsos, lange Schnauzbärte, so nennen die Tibeter ihre kleinen,
langhaarigen Hunde, und diese sind für sie außerordentlich
kostbar. Das sind Hunde von der Art unseres Tibet Terriers, aber ganz
besonders die kleinen Apsos, die wir in die Kategorien Lhasa Apso, Tibet
Spaniel oder Shi Tau (nicht Shi Tzu) einordnen. Findet man noch manchmal
in den Städten Tibet Terrier in der Öffentlichkeit, verbergen
die Tibeter jedoch ihre kleineren Apsos sorgfältig - vor den Chinesen!
Unvergessen ist das Trauma massenhafter Hundevernichtungen zu Beginn
der Besatzungszeit. Ein Ziel dieser barbarischen Aktionen war es offenbar,
den seelischen Widerstand der Tibeter zu brechen.
Im abgelegenen Land jedoch, den Tälern des Kunlun, Hindukusch oder
Himalaja etwa, aber auch den Steppenweiden des Changthan wird ein Apso
als Stolz des ganzen Dorfes, des Lagers oder Klosters selbst dem Fremden
präsentiert - wenn er nicht gerade Chinese ist. Denn die "Schnauzbärte"
genießen eine ungewöhnliche Verehrung. Unbedarfte westliche
Beobachter haben das sogar mit der Vorstellung verwechselt, den Tibetern
seien Hunde heilig. Das aber ist falsch!
Schneelöwen
Die Verehrung der Apsos geht vielmehr auf zwei unterschiedliche Motive
zurück, die jedoch beide im Buddhismus/Lamaismus Tibets verwurzelt
sind. Da wird zunächst Buddha oft in Begleitung mythischer Wächter,
den Schneelöwen, dargestellt. Auf tibetisch werden sie "ssengge"
genannt. Klein von Gestalt, wachsen sie bei Gefahr zu gewaltiger Größe
heran und beschützen den Erleuchteten. Die Apsos werden eindeutig
nach dem Bild dieser Schneelöwen Buddhas selektiert. Berühmt
ist das Bild des heutigen Dalai Lama mit seinem weißen Tibet Terrier
"ssengge"!
Lange Zeit geisterte sogar die Vermutung von "Löwenhunden"
als tibetische Hunderasse durch Berichte Tibetreisender. Das aber hat
sich als falsch herausgestellt. Alle Apsos sind Abbilder der Schneelöwen!
Die zweite Wurzel der Verehrung von Hunden allgemein rührt aus
der Überzeugung, Hunde seien Wiedergeburtsträger - insbesondere
von Mönchen, die schwere Verfehlungen begangen haben. Gewiß
kein Aspekt der Heiligkeit! In tibetischen Klöstern gibt es viele
Hunde, und sie werden von den Mönchen mit Respekt und Liebe behandelt.
Zum einen sind sie ja so etwas wie Mitbrüder, wenn auch in anderer
Gestalt, zum anderen baut ein kluger Mönch vor: Falls er selber
in die Verlegenheit kommen sollte, als Hund wiedergeboren zu werden,
möchte er gut behandelt werden.
Nomaden- und Klosterhunde
Unsere Tibet Terrier nun, wie sie heute in Europa anzutreffen sind,
entstanden aus zwei Zuchtlinien. Die eine ist die Nomadenzucht, wo sie
als Hütehunde in mehr als 4000m Höhe Ziegen-, Schaf- und Yakherden
zusammenhielten und Herde und Lager vor Feinden aller Art warnten. Dann
aber zogen sie sich hinter ihre Kameraden, den riesigen Herdenschutzhunden
vom Typ des Do Khyi, zurück und überließen, kluge Kleine,
den Großen die Kampfstätte.
Von den Nomadenhunden stammt das doppelschichtige Haarkleid, - lange
Deckhaare, dichte Unterwolle -, das gegen eisige Kälte und Wind
ebenso wie gegen Nässe und Sommerhitze schützt. Wir führen
auf diese Zucht auch die robuste Gesundheit unserer Hunde zurück,
ebenso den quadratischen, kraftvoll bemuskelten Körper mit seinen
besonderen Klettereigenschaften, wie ein Gebirgs- und Schneehund sie
braucht. Dazu zählen das tiefstehendem Sprunggelenk, die ideale
Winkelung der anderen Gelenke, die teilweise beweglichen Krallen und
die ungewöhnlich breiten Pfoten, die wie Schneeschuhe wirken.
Als ein besonderes Erbe dieser selbständig arbeitenden Hütehunde
hat sich bis heute eine gewisse Zurückhaltung gegenüber Fremden,
aber auch der "eigene, selbständige Charakter" erhalten,
der keine Unterwürfigkeit kennt. Manche nennen das auch einen Dickkopf!
Die zweite Zuchtlinie sehen wir in der Klosterzucht. Als Weihegaben
schenkten die Viehnomaden den Klöstern besonders ihre kleinen,
zierlichen Hunde, die nun Begleiter, Wärmeflaschen und "Bethunde"
der Mönche wurden. Von dieser Zuchtlinie stammen vor allem die
feinen, asiatisch runden Formen unserer Tibeter und besonders ihre verträgliche,
liebenwerte Art, und damit ihr unvergleichlicher Charme!
Tibet Terrier in Europa
Beide Zuchtrichtungen sind von Anfang an in den europäischen Linien
vertreten. Die englische Ärztin Dr. Agnes Greig erhält von
adeligen Tibetern die Hündin Bunti zum Geschenk, die eindeutig
aus der Nomadenzucht kommt. Bald darauf erwirbt sie vom Buddiman Lama
den Rüden Thoombay (of Ladkok), einen hervorragenden Vertreter
der Klosterzucht. Frau Greigs Hunde bestimmen seit ihrer Registrierung
beim Britischen Kennel Club im Jahre 1930 bis heute die gesamte europäische
Zucht.
Und bis heute hat sich auch die große Bandbreite der Herkunft
unserer Tibet Terrier in Farbe, Gestalt, Größe, Form und
Wesen bewahrt. Nicht als "Designer-Modell" ist er entstanden,
sondern aus der Weiterzucht originaler tibetisch-asiatischer Vorfahren.
Mindestens 18 solcher Originale bestimmen die Ahnenschaft der europäischen
Tibet Terrier. Sie differieren in der Farbe von weiß über
rehbraun (tan) bis schwarz sowie mehrfarbig, aber auch in ihrer Größe
und den Formen. Der kleinste mit einer Widerristhöhe von 30cm war
zweifellos R'Apso, ein 1947 in Deutschland als "outcross"
eingesetzter Rüde. Heute werden Größen von 35,6cm bis
40,6cm als Standard angesehen.
Im Gegensatz zur falschen Namensgebung zeigte der Britische Kennel Club
bei der Formulierung des Standards das richtige Augenmaß. Er verzichtete
auf jede Einseitigkeit und bestätigte in den Rassemerkmalen - bis
heute - die Vielfalt des Erscheinungsbildes unseres Tibet Terriers.
Wer also als Laie unverhofft in das Gewimmel eine Spezialzuchtschau
für tibetische Hunderassen gerät, der mag es auf den ersten
Blick gar nicht glauben, daß die 50 oder mehr Hunde, die als Tibet
Terrier paradieren, auch wirklich zu ein und derselben Rasse gehören!
Doch in der Vielfalt des Erscheinungsbildes bewahren wir einen kostbaren
genetischen und ästhetischen Schatz.
Asiatisch-europäisches Wesen
In der nun mehr als 70 Jahre währenden europäischen Zuchtgeschichte
haben sich die heutigen Nachkommen der originalen Tibet Terrier durch
Zuchtauswahl im Wesen ein wenig verändert. Ursprünglich zeigten
sich die Hütehunde der Nomaden und die Begleiter der Mönche
zwar als ausgesprochen treu, anhänglich und freundlich gegen über
den eigenen Leuten, aber um so reservierter gegenüber Fremden.
Das war schließlich ihre Pflicht als Wachhunde! Bei uns aber ist
der Tibet Terrier im Verhalten aufgeschlossener und offener geworden;
eine zwangsläufige Folge des europäischen Ausstellungswesens.
Dort werden Hunde bevorzugt, die sich auch einem fremden Richter gegenüber
optimal präsentieren.
Lamleh und Luneville
Wer sich näher mit dem Tibet Terrier befaßt, kommt an zwei
Begriffen nicht vorbei: Lamleh und Luneville. Dabei handelt es sich
um zwei bis heute gepflegte europäische Zuchtlinien. Lamleh stammt
von Dr. Greig, Luneville von dem englischen Ehepaar Downey. Beide Linien
standen in Konkurrenz, und Luneville lief den Lamlehs noch bis vor ca.
12 Jahren den Rang ab. Doch seit dieser Zeit sind die Lamlehs wieder
machtvoll ins europäische Zuchtwesen zurückgekehrt.
Aber der Streit hie Lamleh, da Luneville ist ziemlicher Unsinn! Von
Anfang an bestand die Luneville-Linie zu mindestens 75% aus Lamlehs
von Dr. Greig. Moderne Züchter sagen: "Wir züchten Tibet
Terrier, nicht Lamleh und nicht Luneville, und das heißt gesunde,
instinktsichere Hunde von festem Wesen, kraftvoll und elegant zugleich,
mit super Haarqualität!" Die Produkte dieser Zuchtphilosophie
beweisen ihre überragende Qualität. Allen voran Ski-La-Kyi
Norbu (tibetisch = schwarzer Edelstein), der Weltsieger von 1996 und
Heruka von Lu-Khang, einem Spitzenrüden des deutschen KTR in den
letzten Jahren. Beide sind eine gelungene Verbindung der besten Tibet-Terrier-Eigenschaften
aus allen Linien!
Das Haarkleid
Ein letztes Wort noch zum hervorstechendsten äußeren Merkmal
unserer asiatischen Schönheit, dem prachtvollen Haarkleid. Gute
Zuchtauswahl sorgt für festes Deckhaar und einer Unterwolle, die
keineswegs wattig sein darf. Das Haar verlangt gewiß eine aufwendigere
Pflege als das anderer europäischer Hunde, aber bei guter Qualität
filzt es kaum und macht weniger Mühe, als das auf den ersten Blick
erscheint. Der Haarschleier vor den Augen soll, so sagt man, unseren
Tibeter in seiner Heimat vor Staubstürmen geschützt haben.
Vor diesen müssen wir in Europa kaum Angst haben. Statt die Haare
aber vor den Augen frei zu schneiden, raffen wir sie mit einer Spange
oder einem Gummi zusammen und verschaffen so unserem Hund freie Sicht.
Schleifchen aber sind verpönt. Die bleiben Schoßhündchen
vorbehalten und taugen nichts für unsere kernigen, urwüchsigen
Tibeter.
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